Architekturwirklichkeiten V: Niederösterreich
Auf dem Acker ist jeder Weltmeister
GesprächAuf dem Acker ist jeder Weltmeister
Als flächenmäßig größtes und seit Jahrzehnten von einer soliden konservativer Mehrheit regiertes Bundesland steht Niederösterreich im hartnäckigen Ruf, den Schwerpunkt seiner kulturellen Identität im Bewahren tradierter Werte zu sehen. Gründe für diese Behauptung finden sich genug. Das Image des Landes in Fragen der Baukultur ist wesentlich von der Aktion „Niederösterreich erhalten – Schöner gestalten“ geprägt, einer Initiative der Landesregierung, die seit Mitte der siebziger Jahre die regionale Bautradition als einzig gültigen Qualitätsmaßstab propagierte und auch verpflichtend in der Bauordnung verankerte. Dem Land gelang damit, was selbst dem britischen Thronfolger und Hobby-Architekten Prinz Charles versagt blieb: Die Erhebung der Postmoderne zum Baugesetz – ein Umstand, der kaum dazu angetan war, innovative Köpfe ins Land zu holen. Auch das Jahrhundertprojekt einer neuen Landeshauptstadt in St.Pölten brachte nicht jenen Innovationsschub, den man sich erhoffte. Architektonisch solides Mittelmaß, konnte das Projekt vor allem städtebaulich nicht die ausreichende Strahlkraft entwickeln: Der Bevölkerungsrückgang St.Pöltens in den letzten 10 Jahren spricht für sich. Wäre es nicht klüger gewesen, so die rhetorische Frage eines Gesprächsteilnehmers, die Regierungsgebäude in Wien zu belassen und sie dort technisch wie ästhetisch auf ein Höchstniveau aufzurüsten? Das wäre der Beweis für wirkliche Ambition gewesen: Auf dem Acker könne schließlich jeder behaupten, Weltmeister zu sein. Dass im Land trotz allem ein beachtliches Potenzial an engagierten Architekten und Bauherrn besteht, beweist neben einer bereits beachtlichen Anzahl kleinerer Realisierungen und größerer Projekte – beispielsweise in der „Kulturhauptstadt“ Krems – vor allem die Aktion „Kunst im öffentlichen Raum“, in deren Rahmen in den letzten Jahren eine Reihe höchst kontroversieller Kunstprojekte initiiert und zum großen Teil erfolgreich umgesetzt werden konnte. Die veränderte Topographie der Aufgeschlossenheit des Landes, die sich in diesen Projekten abzeichnet, lässt für die Zukunft hoffen. Immerhin wurde jener Passus der Bauordnung, der eine Anpassung an die Umgebung fordert, bereits 1996 abgeschafft. Die Letztverantwortung für die Baukultur liegt damit nicht mehr bei der Obrigkeit, sondern dort, wo sie in einer Demokratie am besten aufgehoben ist: bei den Bürgern. Wie sie diese Freiheit zu nutzen wissen, wird sich erst in einigen Jahren an der gebauten Realität abzeichnen. Die Bürgermeister als Baubehörden erster Instanz haben jedenfalls schon erkannt, welche Chancen (und Gefahren) in einer öffentlichen Architekturdiskussion stecken, deren Resultat nicht von vornherein feststeht.
Christian Kühn