Architekturwirklichkeiten VI: Vorarlberg
Wer rastet, fliegt raus
GesprächAuf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft ist Vorarlberg den übrigen österreichischen Bundesländern einen Schritt voraus. Postindustriell bedeutet keineswegs, dass hier nichts mehr produziert würde. Aber selbst in der Textilindustrie, die aus ihrer Krise längst wieder auf ein umsatzmäßig niedrigeres, dafür aber höchst profitables Niveau gefunden hat, heißt der eigentliche Rohstoff „Wissen“. Dass es in Vorarlberg weniger Haupterwerbsbauern gibt als in Wien, hat Symbolcharakter: Die Wissensgesellschaft legt ein spürbar verschärftes Tempo vor, genauso wie es die Industriegesellschaft der agrarischen gegenüber getan hat. Ihre eigentliche Triebfeder ist nicht das Wissen an sich, sondern die Jagd nach dem Wissensvorsprung, und der geht im globalen Wettbewerb schnell verloren. Am Ende des Gesprächs brachte es einer der Teilnehmer auf den Punkt: „Wer in dieser Spirale mitmarschiert und vorne dabei sein will, ist ein Getriebener. Da gibt es kein Rasten, denn wer rastet, fliegt raus.“ Für die Architektur hat diese Dynamik Konsequenzen: Es ist kein Zufall, dass sich der griechische Begriff für Haus, „oikos“, auch im Begriff der Ökonomie wieder findet. Die viel gelobte Kultur der Vorarlberger „Häuslebauer“ ist eine Kultur der Effizienz, in der das „Häusliche“ eine Doppelnatur aufweist: Es steht immer noch für Heimat und Stabilität, entwickelt sich aber zugleich immer mehr zum Spielstein in einem alle Lebensbereiche erfassenden Monopoly. Dass die Vorarlberger Bauschule sich von der Kultur der Einfachheit und Vergänglichkeit, der sie sich in den frühen 80er Jahren verpflichtet fühlte, so radikal verabschiedet hat, beweist ein ausgeprägtes Sensorium für gesellschaftliche Trends. Der Leitbegriff der Effizienz, auf höchstem Niveau zum Ausdruck gebracht, prägt heute in der Vorarlberger Architektur Produktionsbedingungen und Produkte, vom Einfamilienhaus bis zum Bürogebäude. Dass eine jüngere Generation formal auch in den Niederlanden reüssieren könnte, wie etwa Marte und Marte mit ihrem Bürogebäude im Lustenauer Millenniumspark, ist kein Bruch mit der bisherigen Vorarlberger Entwicklung, sondern deren konsequente Fortführung. Für den Landschaftsraum im Rheintal bedeutet der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft eine Transformation vom Ländlichen in eine Suburbanität ohne Zentrum, die erst langsam ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt und sich als zentrale Planungs- und Gestaltungsaufgabe der nächsten Jahre erweisen wird. Unter suburbanen Randbedingungen eine Baukultur zu schaffen, die sich nicht nur vom Objekt, sondern auch vom Freiraum her definiert, verlangt eine radikale Hinterfragung der Begriffe, mit denen im Städtebau üblicherweise agiert wird. Ob das Rheintalkonzept, das gerade unter Federführung des Vorarlberger Architektur entsteht, den Anstoß für eine solche Grundsatzdebatte geben kann, werden die nächsten Jahre zeigen.
Christian Kühn