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Das Vater-Jahnsche Turnfieber erhitzt Wiener Festwöchnerinnen und Adeleszentenanimierer, beflügelt auch die frühjahrsselige Stadtjugend.
AusschreibungDer Felgaufschwung ist eine von Turnvater Friedrich Ludwig Jahn erdachte, einfache Reckübung. Sie ist unvergesslich, weil sie jedem Schüler im Schulturnsaal immer die Leiste rotationsrot und den Kopf noch röter werden ließ. Nun lässt sich die Reibung zwischen Haut und Stahl, sogar zwischen Stadtseele und -system, auf allen Wiener Gassen und Plätzen spüren: „Wien turnt weiter“. Melancholisches Heurigenherumturnen zwischen roten Achterln und weißen Spritzern ist eine abendliche Lieblingsbeschäftigung des Wieners. Aber zackiges Turnen? Gar auf Kommando und mit gesundheitsfördernder Doktrin? Das muss schon bei den Kleinsten begonnen werden, Erwachsene wollen nicht mehr mit. Wien will Sportmetropole werden und turnerische Talente sind Voraussetzung für viele Sportarten. Warum also nicht Straßen-Turnen neben Straßen-Fußball, -Volleyball, -Basketball und -Skateboard? Die Aktion „Wien turnt weiter (WTW)“ ist folglich ganz groß aufgezogen: Turnanlagen in allen Bezirken, an allen Verkehrsschnittstellen, bei Schulen und Hochschulen, wo sich die Kids treffen, will WTW voll dabei sein. Vorerst hat sich das Wiener Sportressort auf das Reck als Ertüchtigungsgerät beschränkt, weil Stahlturngerüste wegen des geringen Raumbedarfs leichter in das öffentliche Gut zu integrieren sind. Elastische Matten für das Bodenturnen, knackige Kästen und Böcke für das Springen, stramme Seitpferde und biegesteife Barren für die Schwinger, allerlei holzpfostige Balken und Riegel für die Balancierer werden folgen. Eine neue Ära der Stadtmöblierung bricht an. Der Magistrat ist bestrebt, die herkömmlichen Nutzungen mit den WTW-Bedürfnissen zu koordinieren: der Abfallkübel im Sprungbock, die Straßenleuchte am Stufenbarren, die Sitzbank unter dem Schwebebalken. Überraschend, welche Synergieeffekte bereits jetzt von den Reckanlagen ausgehen; die bisher in den Straßen vagabundierenden Einkaufswägelchen der Supermärkte finden nun Sammelplätze an den Reckstangen. Die zur Selbstsicherung der turnenden Kinder angebrachten Kettchen samt simplen Steckschlössern passen zufällig an jene der fahrbaren Gittergefährte der Billas, Hofers und Mondos. Die strengen Turntrainer, die ihre Unterweisungen in Auf- und Umschwüngen halbstündlich am Nachmittag anbieten, arbeiten mittlerweile gut mit den Suchtrupps der Supermarktketten zusammen – die straff organisierten, mit knappen Kommandos geführten Einweisungen in das Reckturnen können meist ungestört stattfinden. Unbehagen löst bei für das kostenlose kommunale Angebot dankbaren Kindern und Eltern neben dem uncoolen Kommandoton allein die durchgehend blitzblaue Farbe der Reckanlagen aus: Blaue Recke(n) können doch nicht dem „Roten Wien“ Konkurrenz machen!
Walter M. Chramosta
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