Das Letzte-Schani gärtnert für die Weltkultur
ICOMOS entdeckt traditionelles Erbgut am Bahnhof Wien Mitte: die gemeine Gehsteiggastronomie.
AusschreibungNackenermüdet von der hochgehenden Canaletto-Debatte hatte ein Weltkulturgutachter absichtslos den Blick von den obersten auf die untersten zehn Meter des Bahnhofs Wien-Mitte sinken lassen. Zu seiner Überraschung sah er dort Reste der biedermeierlichen Wienerstadt, die ihn sofort faszinierten: einen ganzgastvergessenen Schanigarten, eine metternichinsgeheime Markthalle, eine ensemblereizende Serie von Blechbehältern für Basarware, geh- und sehliniensperrende Stilsalettln, unzählige noch aus grauer Kaiserzeit stammende Schilder; dazu ein Straßenleben fast wie im Orient. Unkenrufe über das gänzlich abgenutzte und abbruchreife Quartier um den Verkehrsknoten waren dem Weltkulturgutachter nicht entgangen. Jetzt wurde ihm klar: Wien-Mitte heißt nicht nur so, es sieht wenigstens teilweise auch noch wie Altwien aus – ein Stück k. u. k. Residenzstadt. Besonders der kleine Schanigarten, gleichsam eine Urzelle der Wiener Gastlichkeit, hat sich in einer reinen Form unmittelbar vor dem Landstraßer Markt erhalten. Wien-Mitte ist eine denkmalpflegerische Fundgrube und für ICOMOS ab sofort auch in Bodennähe wertvoll und vererbbar. Bürgermeister Dr. Häupl bleibt mit seinem Wien-Mitte-Prädikat „Sauhaufen“ zunehmend allein; ICOMOS spricht lieber von hochromantischen Reststadtmassen oder wertvollen Alltagsgeschichtszeugnissen. Zudem bestärkte die periodische Vorbeifahrt von Fiakern den Weltkulturgutachter, zwischen aufregenden architektonischen Meisterstücken lokaler Moderne wie dem Eckkinocenter, das sich immer und immer paradoxperspektivisch mit renaissanceartigen Spasmen verkürzen will, und der gegenüber liegenden Markttarnhalle, der zur ultimativen Hochgarage auf einem innermongolischen Regionalflughafen nur allseitige Schießscharten fehlen, letzte Spuren des imperialen Wien festmachen zu können. Ein historisches Ensemble sondergleichen! Wenn man jetzt klug konserviert und plant, meinte ICOMOS, könnte doch „der Schani“ am Bahnhofsvorplatz für die Weltkultur „gärtnern“ und wäre dabei noch stimmig flankiert von Exempeln zentralasiatischer und italienischer Baukunst, während nebenan die Bank-Austria-Immobilien wie angesagt in den Hundertmeterhimmel wachsen. Wäre der Bahnhofsbauherr bereit, den biedermeierlichen Schanigarten samt den Eckbauten zu erhalten, dann würde ICOMOS im Gegenzug der Österreichischen Galerie ein turmüberarbeitetes, dem Canaletto-Panorama nachempfundenes Ölgemälde zur Verfügung stellen. Der Städtetourist soll nicht verunsichert werden. Eine rasches Wiener Welterbefest kündigt sich an. Nur das alte Canaletto-Panorama will keiner.
Walter M. Chramosta
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