Der Denkmalübergriff
Nach der vorläufigen Unetrschutzstellung kraft gesetzlicher Vermutung nun die teilwirksame Unterdachstellung kraft entsetzlicher Auskragung: ein neuer Präventionsansatz in der Denkmalpflege.
AusschreibungSimmering hat endlich auch ein Hochhaus. Und gleich nebenan einen Tempietto: stahlgrün-blassweiß, glashell, tonnenversonnen, einfach klassisch. Für Rapid-Anhänger müsste er dergestalt eine Pilgerstätte werden. Erste grünweiß beseelte Wallfahrer wurden schon in Rudeln gesichtet; leider steht der Bau nicht in Hütteldorf. Die Kunstgeschichte staunt über das Auftreten eines achsialsymmetrischen Tempeltypus nördlich der Alpen. Hat uns Bramante doch ein cinqucenteskes Zeugnis seiner Meisterschaft hinterlassen, das wir erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Rundbau in San Pietro in Montorio zu Rom entschlüsseln können? Besteht gar ein baugeschichtlicher und funktionaler Zusammenhang zum Renaissanceschloss Neugebäude? Oder ist das Tempelchen gar kein Verwandter des Südens, sondern des Ostens? Ein Kiosk osmanischer Tradition, vielleicht ein wertvolles Relikt der ersten Türkenbelagerung? Jedenfalls ein in für die Entstehungszeit sensationell ausgefeilter Stahlbautechnik realisierter Bau! Das Bundesdenkmalamt arbeitet an der Klärung und hat präventiv Schutzmaßnahmen eingeleitet, um das offenbar in Österreich einzigartige Objekt gegen die Unbilden der Witterung zu schützen. Der Tempietto wurde beim Abbruch eines im Eigentum der Stadt Wien befindlichen Parteiheims der abgeschlankten Simmeringer Sozialdemokratie entdeckt, in dessen tragende Struktur er eingearbeitet war. Nach der aus kommunalen Mitteln finanzierten Restaurierung des als öffentliches Gut unter Denkmalvermutung stehenden Stahlsalettls sollte beim Neubau des Nachbarhauses ein Schutzelement verwirklicht werden. Ein komplett einhausender Schutzbau schied aus, weil das Gebäude der Volksbank an der anderen Seite der Baulücke die notwendigen Fundierungen nicht zuließ. Die Conclusio: wenigstens eine einseitige Unterschutzdachstellung als halbseitiger Schlagregenschutz, ein so genannter Denkmalübergriff. Die städtebauliche Konzeption des benachbarten Hochhauses beinhaltet eine die Simmeringer Hauptstraße begleitende Randbebauung, die durch den Tempietto und die Volksbank unterbrochen werden. Es war architektonisch ein Leichtes, den Schlussbau der Zeile über das bauhistorische Juwel auskragen zu lassen. Schlüssige Kragungen dieser Art sind in der Gegenwartsarchitektur rar. Simmering kann sich einer baukünstlerischen Sensation gewiss sein, die nur übertroffen werden wird, wenn sich die Volksbank ihrerseits den entgegengesetzlichen Übergriff leistet.
Walter M. Chramosta