Architekturwirklichkeiten IV: Tirol
Wir brauchen keine Tiroler Schule!
Klaus Juen, Peter Jungmann, Klaus Lugger, Johann Obermoser, Georg Pendl, Wolfgang Pöschl, Arno Ritter, Hanno Schlögl, Erika Schmeissner-Schmid und Johannes Wiesflecker im Gespräch mit Christian Kühn, Dezember 2001.
„Autochthone Architektur“: Mit diesem Begriff sollte Anfang der 90er Jahre eine „Neue Tiroler Architektur“ international bekannt gemacht werden. Abgesehen von der urtirolerischen Lautkombination „chth“, die diesem Schlagwort einen besonderen regionalen Charme verleiht, war unter autochthoner – im wörtlichen Sinn bodenständiger oder alteingesessener – Architektur eine Architektur mit tiefen Wurzeln gemeint, die vom Alpinen Haus der anonymen Tradition über Heroen wie Lois Welzenbacher und Franz Baumann bis zu Josef Lackner reichen. Etwas boshaft ließe sich diese Charakterisierung als„alteingesessen modern“ übersetzen, und entsprechend gering war auch die internationale Resonanz. In den letzten Jahren hat sich das Bild jedoch deutlich gewandelt. Die neue Tiroler Architektur ist experimenteller und vielschichtiger geworden, zugleich findet sie auch in der breiten Öffentlichkeit Tirols ein verstärktes Interesse. Das ist einerseits neuen Institutionen zu verdanken: der Architekturschule an der Universität Innsbruck, die nach einem Vierteljahrhundert ihres Bestehens deutliche Wirkungen zeigt, und dem Architekturforum Tirol, das wesentlich zur Wahrnehmung zeitgenössischer Architektur in der Öffentlichkeit und bei Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft beitragen konnten. Andererseits hat sich eine jüngere Generation von Architekten weitgehend von den historischen Wurzeln emanzipiert und beginnt Konturen zu gewinnen. Der Plural ist angebracht, da sich die Szene durch sehr differenzierte Positionen auszeichnet, die sich nicht zu einer Tiroler Schule vereinheitlichen lassen. Dass es trotz aller Unterschiede eine gute Gesprächsbasis und Kooperationsbereitschaft zwischen den Büros gibt, dürfte wesentlich zur verbesserten öffentlichen Wahrnehmung beitragen. Wo früher Versuche wie die Einrichtung eines Gestaltungsbeirats für die Stadt Innsbruck an der uneinheitlichen Position der Architekten scheiterten, gibt es jetzt in wichtigen Fragen Konsens und ein gesundes Selbstbewusstsein, von Seiten der Architektur zur gesellschaftlichen Entwicklung wesentliche Beiträge leisten zu können – Architektur als langsames, aber umso wirkungsvolleres Mittel zur politischen Aktion. An Aufgaben fehlt es jedenfalls nicht: Auch wenn im Wohnbau nach wie vor die alten, genossenschaftlich trägen Strukturen dominieren, so gibt es im Industrie- und Gewerbebereich genug innovative Bauherren, und wenn der Tourismus erst einmal entdeckt hätte, was die zeitgenössische Architektur für ihn und seine immer urbaner werdenden Kunden tun könne, dann werde man sich – wie einer der Gesprächsteilnehmer meinte – vor Aufträgen gar nicht mehr retten können.
Christian Kühn