Falsche Potenziale
Forum warnt, 02.03.2015
Ich komme aus der Vorstadt. Hier sind die Gassen eng. Sie führen die Hänge hinauf und wieder herunter, Richtung Stadt verlaufen sie auf Rücken oder in Tälern. Hinter dem Volkstheater, dort wo unlängst ein findiger Investor die Sorglosigkeit eines Schinkelschlosses vor Berlin als Suiten und Serviced Appartements an die Wiener Ringstraße verpflanzt hat, biege ich ab. Die Wiener Ringstraße? Aber die verläuft doch nicht hinter dem Volkstheater! Richtig. Aber irgendetwas hat doch den Druck von mir genommen, den Druck der allzu dicht bebauten Vorstadt.
Es ist der Maßstab der Ringstraße.
Dem Investor war das Potenzial klar: Das Gründerzeithaus wird zum Palais geadelt, mitsamt falschen Balkonen und wahrscheinlich italienischen Caféterrassen. Drei als Dach getarnte Zusatzgeschosse verraten, dass er das Wichtigste nicht verstanden hat: das Haus muss kein Palais sein, um den Maßstab der Ringstraße zu atmen, um an der Ringstraße zu stehen, auch wenn es bis zum Ring noch 200 Meter sind; und es wird kein Palais sein, schon gar nicht am Ring, wenn die „draufgesetzten“ Kubikmeter das letzte herausholen.
Ich lasse das „Palais“ also links liegen und vor mir staffeln sich zwei Palais in die Tiefe. Das heißt, sie würden es, das Trautson und das Auersperg. Sie könnten linkerhand eine Kante bilden, vor der in einen weiten Raum die Blocks des Rathausviertels und der Bellaria, Parlament und Justizpalast frei hineingestellt sind. Hier wäre man in ein Schinkelsches Berlin gelangt, das es in dieser Größenordnung und Großzügigkeit nur in Wien gibt: in die offene Raumkomposition der Ringstraße. „Würde“, „wäre“: Schon Camillo Sitte hat diese Potenziale nicht mehr gesehen, als er dem Raum seine „Verbesserungen“ geschlossener Raumsysteme verordnen wollte, „Nachverdichtungen“ – zwar mit Respekt für den Maßstab der Ringstraßenblocks, aber ohne Verständnis für den Raum dazwischen. Ob Raimund oder Republik: das Gedenken lässt diesen Raum nur als Hintergrund zu. Verkehrsflächen und Straßenbahnschleifen drängen die Bepflanzung, die hier Kontinuität schaffen sollte, auf schwer erreichbare, undurchdringlich scheinende Inseln zusammen. Masten- und Schilderwälder, Hütten mit oder ohne gestalterischem Anspruch, aber treffsicher an falscher Stelle, Absperrungen und unmotivierte Geländestufen – hier, wo das Gelände fast, aber nicht ganz flach geworden ist – erledigen den Rest.
Solange „Potenziale“ als Synonym für sorglose Verwertung und Baumasse gelten, wird sich daran nichts ändern: das Problem bleibt falsch gestellt.
von Andreas Vass für die Österreichische Gesellschaft für Architektur